Arm trotz Arbeit

Jeder Cent wird dringend gebraucht Die Zahl der Berufstätigen, die unter die Schwelle der Armutsgefährdung fallen, hat sich zwischen 2004 und 2014 verdoppelt. Damit ist die Erwerbsarmut in der Bundesrepublik stärker gestiegen als in jedem anderen EU-Land. Manuela und Tahsin haben zwei gemeinsame Söhne und mehrere Jobs. "Manchmal denke ich, die Kinder hören von uns immer nur 'Arbeit'", so der Familienvater. Tagsüber arbeitet Tahsin als Staplerfahrer, abends fährt er Pizza aus. Der 42-Jährige ist gelernte Fachkraft für Metalltechnik, doch seit Jahren findet er in seinem erlernten Beruf keine Festanstellung. Selbst das Arbeitsamt kann ihm nur Aushilfsstellen über Zeitarbeitsfirmen vermitteln. "Die einzige Chance, aus dieser Situation herauszukommen, wäre eine Umschulung oder eine Zusatzqualifikation. Aber das kostet Zeit und Geld, was ich beides nicht habe", so der Familienvater. Denn jeder Cent, den Manuela und Tahsin verdienen, wird dringend gebraucht. Trotz Qualifikation bleibt wenig zum Leben Tahsins Lebensgefährtin Manuela kümmert sich um die zwei kleinen Kinder und hat zwei Putzstellen. Da beide im sogenannten Niedriglohnsektor arbeiten - das heißt, sie verdienen kaum mehr als den Mindestlohn -, bleiben der Familie trotz der vielen Jobs nur 300 Euro im Monat zum Leben. Möglichkeiten, für das Alter zu sparen, haben sie dadurch auch nicht. Manuela versucht, zu sparen, wo sie nur kann, und geht regelmäßig zur Kleiderkammer. Trotzdem fehlt oft das Geld für Rechnungen. "Dafür, dass wir so viel arbeiten, sind wir arm." Monika wurde nach ihrer Scheidung zur Multijobberin. Die 58-Jährige füllt eine befristete Teilzeitstelle mit verschiedenen Jobs auf. Um diese Stellen konkurriert sie mit Studenten. "Eins muss man sich auch vor Augen halten: Ich bin fast 60. Irgendwann ist ein Zeitlimit erreicht, dass man sagt: Jetzt ist gut, jetzt sieht es albern aus, wenn die ältere Dame da irgendetwas macht." Aber Monika ist auf die Einkünfte ihrer Nebentätigkeiten angewiesen. Trotz guter Ausbildung, mehrerer Qualifikationen und ständiger Bewerbungen findet sie keine Festanstellung. "Bei mir ist einfach das Alter das Problem, ich bin gut ausgebildet, ich habe vernünftige Umgangsformen, das ist dann schon nicht zu verstehen, warum ich keinen Arbeitsplatz kriege." Kaum Zeit für die Familie Morgens am Frühstückstisch: Sabine geht mit ihrem elfjährigen Sohn Sam den Tag durch. Die Multijobberin plagt ständig ein schlechtes Gewissen ihrem Sohn gegenüber. Quelle: ZDF/Max Gudczinski Sabine ist alleinerziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes und hat zwei Jobs. Eine volle Stelle bei der Stadt in Essen füllt die 41-Jährige mit einem Minijob am Wochenende auf. Ein schlechtes Gewissen ist Sabines ständiger Begleiter. "Wenn ich meinen Sohn so anschaue, denke ich: Ist schon doof, aber was ist das Perfekte? Ich mach' das, damit mein Sohn nicht das Gefühl hat, dass wir am Limit leben." Wie fühlt es sich für einen Menschen an, wenn die Arbeitskraft so wenig wert ist, dass eine Arbeitsstelle nicht zum Leben reicht? Wenn man keine Chance hat, trotz Ausbildung und Qualifikationen eine unbefristete Vollzeitstelle zu bekommen? Wenn das eigene Kind darunter leidet, weil man so viel arbeiten muss? "37 Grad" geht diesen Fragen nach und lernt dabei Menschen kennen, die nur selten Zeit für sich und ihre Familien haben. Doku | 37 Grad - Risiko Erwerbsarmut Zwischen 2004 und 2014 hat sich die Zahl der von Erwerbsarmut Betroffenen verdoppelt. Wie könnte dem zukünftig vorgebeugt werden? Videolänge: 1 min Datum: 11.09.2018 Nathalie Sutor über ihren Film Die Recherche zu diesem Thema war nicht leicht. Viele Multijobber haben zwar mit mir gesprochen, mir ihre Situation eindrucksvoll geschildert, aber die meisten haben sich nicht vor die Kamera getraut. Ihnen war es peinlich oder die Arbeitgeber wussten nichts von den Nebenjobs. Eine Frau erzählte mir, wie sie ihren Arbeitgeber fragte, ob sie nebenbei arbeiten dürfte. Der war wohl ganz erstaunt darüber, dass ihr Einkommen nicht reicht. Als ich diese Frau und ihre Familie in Berlin besucht habe, konnte ich keinen Luxus erkennen, der, wie in diesem Fall, ein drittes Gehalt nötig macht. Sie lebt mit ihrem Mann, der auch eine Vollzeitstelle hat, und ihrer Tochter in einer bescheidenen Dreizimmerwohnung zur Miete. Die Familie hat ein günstiges Auto und Urlaube sind selten. Teure Hobbys haben die drei auch nicht. Also warum ist ein drittes Gehalt nötig? „Für die Autoreparatur“, heißt es. „Dass man, wenn mal etwas ist, einen Notgroschen hat." Ein Kinobesuch kostet für eine vierköpfige Familie bis zu 60 Euro, ein Zoobesuch ebensoviel. Ich habe bei meinen Recherchen festgestellt, dass ein Multijobber-Dasein kein Phänomen bei Menschen ohne Ausbildung ist. Multijobber werden die meisten, um sich kleine Dinge leisten zu können, ohne dass sie ein tiefes Loch in der Haushaltskasse hinterlassen. Die alleinerziehende Sabine aus dem Film ist Multijobberin, „damit mein Sohn nicht das Gefühl hat, wir leben am Limit.“ Monika und Horst sind Multijobber, da sie aufgrund ihres Alters „trotz guter Qualifikationen und Umgangsformen“ keine Festanstellung kriegen. Tahsin und Manuela bekommen nur noch Jobs über Zeitarbeitsfirmen. Zu meiner Studentenzeit hatte ich auch mehrere Jobs. Das hat Spaß gemacht und mich weitergebracht. Unter welchem Druck Multijobber fast täglich stehen, habe ich bei Tahsin erlebt. Auch Monika und Horst sind in einem Strudel gefangen, und das Alter spielt auch noch gegen sie. Ich ziehe den Hut vor allen Multijobbern, die ich kennengelernt habe. Theoretisch könnten sie zum Amt gehen, aber Monika sagt: „Das ist die letzte Option!“


Dieser Film wurde leider am 17.01.2020 um 09:45Uhr depubliziert!
Herkunft: ZDF-Mediathek
Sender: ZDF
Depublizierung: 17.01.2020 09:45Uhr
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